Vor Zurück Inhalt6. Die Visionen des PioniersHerbert A. Simon begann seine akademische Karriere in den 40er Jahren als Professor für politische Wissenschaften, bevor er 1949 den Lehrstuhl für Computerwissenschaft und Psychologie an der Carnegie-Mellon Universität übernahm, den er bis heute innehat. Seine Vielseitigkeit wird auch darin deutlich, daß er 1978 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt - obwohl er formell mit dieser akademischen Disziplin nichts zu tun hat. Aber Herbert Simon ist immer ein Mensch gewesen, der Grenzen überschritten hat. Dabei ist er nicht unbedingt jemand, der sein Licht unter den Scheffel stellt. Zum Thema "cognitive revolution" befragt, erwiderte er in einem Interview kurz und bündig: "You might say that we started it." (Baumgartner und Payr, 1995, S. 233) Mit "wir" meinte er sich und seine Partner, Alan Newell und J.C. Shaw. Gemeinsam mit ihnen hatte Simon zwischen 1955 und 1957 ein Computerprogramm namens "Logic Theorist" (LT) entwickelt, das Theoreme durch heuristische Suche beweisen sollte. Aus LT entwickelte sich GPS, der general problem solver, den Newell, Shaw und Simon zwischen 1957 und 1959 entwickelten. Der GPS war das erste Computerprogramm, das ausdrücklich entwickelt worden war, um menschliche Problemlösungsprozesse zu simulieren. Damit beschritten Simon und seine Kollegen in einer Zeit, in der der Behaviorismus dominierte, Neuland. Zugleich legten sie den Grundstein für eine Reihe von weiteren Versuchen, mit Hilfe von Computern das Funktionieren des menschlichen Geistes zu verstehen. Im Jahre 1967 veröffentlichte Herbert Simon in der Psychological Review einen Aufsatz unter dem Titel "Motivational und Emotional Controls of Cognition" (Simon, 1967). Darin machte er zum ersten Mal Emotionen zum Teil eines systematischen Modellierungsansatzes kognitiver Prozesse. Die Arbeit war entstanden als Reaktion auf einen Artikel von Ulric Neisser. Neisser äußerte darin seine Kritik an damals existierenden bzw. geplanten Computerprogrammen wie folgt:
Simon akzeptierte die Einwände von Neisser und verstand seine Arbeit als einen Versuch, eine erste theoretische Grundlage zu legen für die Konstruktion eines informationsverarbeitenden Systems, das über Emotionen und multiple Ziele verfügt. Neisser und andere Kritiker der Computermodellierung von geistigen Prozessen hatten unter anderem darauf hingewiesen, daß diese mit menschlichem Verhalten nur wenig zu tun haben. So würden solche Programme beispielsweise nur ein einfaches Ziel verfolgen und nicht, wie Menschen, von zahlreichen Motiven angetrieben sein. Für Simon war dieses Argument nicht stichhaltig. Zwar räumte er ein, daß die implementierten Modelle "excessively simplified" (Simon, 1967, S. 34) seien; dies sei aber aufgrund von technischen Anforderungen so. Die dahinterstehenden Modelle einer hierarchisch aufgebauten, seriellen Informationsverarbeitung seien jedoch nicht so eindimensional:
Zugleich war Simon aber auch klar, daß ein solches Modell Mängel hat:
Was den bisherigen Modellen fehlt, ist klar: Ein Mechanismus, der zu jedem gegebenen Zeitpunkt die Aufmerksamkeit "hijacken" kann, um sie für überlebenswichtige Ziele nutzbar zu machen. "If real-time needs are to be met, then provision must be made for an interrupt system." (Simon, 1967, S. 34) Simon entwickelt sodann eine Theorie eines solchen Interrupt-Systems. Zunächst definiert er drei Klassen von Echtzeit-Bedürfnissen eines Individuums. Needs arising from uncertain environmental events sind zum Beispiel plötzliche Geräusche oder visuelle Reize, die eine Gefahr signalisieren könnten. Physiologigal needs sind interne Reize, die körperliche Bedürfnisse anmelden, zum Beispiel Hunger, Durst, Erschöpfung etc.. Cognitive associations schließlich sind starke Reize, die durch Gedächtnisassoziationen ausgelöst werden, zum Beispiel eine unspezifizierte Angst. Diese Echtzeit-Bedürfnisse werden, so Simon, von einer Reihe physiologischer Phänomene begleitet sowie von subjektiven Gefühlen, die gemeinhin auch die Zustände begleiten, die als "Emotion" bezeichnet werden. Ein solcher emotional stimulus erfüllt als Interruptor eine wesentliche Überlebensfunktion, indem er laufende Verarbeitungsprozesse unterbricht und die Aufmerksamkeit auf ein für das Überleben des Individuums dringlicheres Problem lenkt. Unter gewissen Umständen kann aus dem Interruptor allerdings auch ein Disruptor werden, der dann keinerlei adaptiven Wert mehr besitzt. Eine wesentliche Qualität des interrupt systems ist die, daß es durch Lernprozesse verändert werden kann.
Als Fazit seiner Überlegungen ist für Simon klar, daß realitätsnahe und erfolgversprechende Theorien menschlicher Kognition Emotionen in Form eines interrupt systems einbeziehen müssen. Simon faßt seine Theorie wie folgt zusammen:
Die Theorie impliziert, daß Organismen über zwei parallele Verarbeitungssysteme verfügen: einen "goal executor", der Handlungen generiert, und ein "Beobachtungssystem", das kontinuierlich die innere und äußere Umgebung eines Organismus daraufhin überprüft, ob ein Ereignis eine schnelle Reaktion erfordert. Das erste, ressourcenlimitierte System kann vom zweiten unterbrochen werden. Mit seiner Arbeit hat Simon eine Reihe wesentlicher Eckpunkte definiert, die für die weitere Entwicklung von autonomen Systemen von Bedeutung sind. Solche Systeme werden angetrieben von unterschiedlichen Motivationen, die aufgrund sich verändernder äußerer oder innerer Zustände entstehen können. Aufgrund der Tatsache, daß solche Systeme nur über begrenzte Ressourcen verfügen, sich aber in einer komplexen und weitgehend unvorhersagbaren Umwelt bewegen, benötigen sie ein System von Kontrollstrukturen, das es ihnen möglich macht, laufende Prozesse zu unterbrechen und neue einzuleiten, wenn dies für das Überleben des Systems von Bedeutung ist. Simon begrenzt dabei seine Überlegungen bewußt nicht nur auf Menschen oder Tiere, sondern betrachtet sie als Designanforderungen für jedes autonome System. So ist es sicherlich auch kein Zufall, daß sein zentraler Mechanismus der Interrupt ist, ein Begriff, der in ähnlicher Form auch in der Informatik Verwendung findet. Sloman (1992) interpretiert Simons Ausführungen ausdrücklich als Anweisungen zur Konstruktion autonomer Systeme:
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